Am Sonntag vor dem dreijährigen Jahrestag des Überfalls auf die Ukraine haben die Kirchen in ganz Polen unter Tränen Gebete gesprochen – Gebete der Klage, aber auch der unerschütterlichen Hoffnung.
Es war ein Donnerstag. Noch eine Woche zuvor war die Kunstlehrerin Nadia in der Hektik des Alltags gefangen gewesen – sie hatte ihre Ausstellung im Kunstmuseum von Charkiw beendet und den 17. Geburtstag ihres Sohnes gefeiert. Den Weihnachtsbaum hatten sie für das Geburtstagsfest stehen lassen und genossen seinen warmen Lichterglanz noch lange nach Beginn des neuen Jahres.
Dann, in den frühen Morgenstunden dieses eiskalten Tages, geschah das Undenkbare. Die Ukraine mit ihren 40 Millionen Einwohnern wurde angegriffen. Charkiw wurde bombardiert, bald rollten Panzer durch die Strassen. Zuerst kam Nadia das surreal vor. Doch als die Fensterscheiben ihres Hauses durch die Explosionen zerbarsten, war die Realität nicht mehr zu leugnen: Nirgendwo war man mehr sicher.
Hastig packte Nadia das Nötigste für eine Nacht zusammen und machte sich auf den Weg zu einer Notunterkunft, in der Gewissheit, dass ihr Sohn im Haus der Grossmutter in Sicherheit war. Aus der „einen Nacht“ wurden zwei Wochen, die sie im Untergrund einer U-Bahn-Station verbrachte. Als sie endlich wieder mit ihrem Sohn vereint war, flohen sie in den Westen und beantragten Asyl in Polen. Sie kehrten nie wieder nach Hause zurück.
Drei lange Jahre sind seit diesem Tag vergangen – Jahre des Verlustes, der Trauer und der unerbittlichen Ungewissheit. Doch mitten in der Dunkelheit begegnete Nadia etwas Unerwartetem: Hoffnung. Durch die Freundlichkeit von Jesus-Nachfolgern, die sie auf ihrem Weg traf, entdeckte sie eine Hoffnung, die ihr der Krieg nicht nehmen konnte. „Meine Welt wurde erschüttert", berichtet sie, "aber Gott wurde mein Ein und Alles.“
Die natürliche Antwort auf den Schmerz war für Nadia, wie für viele andere, zu helfen. Sie begann ehrenamtlich, Flüchtlingen zu helfen, die in Warschau ankamen, und schloss sich bald dem OM-Team an. Heute leitet sie Aquarellmalkurse im OM-Gemeinschaftszentrum Dom Kultur. Mit diesen Kursen ermutigt sie andere Flüchtlinge, über das blosse Überleben hinaus kreativ zu werden – ein Weg, den auch sie selbst gegangen ist.
In der vergangenen Woche ging es im Kurs um das Thema ‚Türen und Fenster‘. Für viele sind Fenster ein Symbol für Möglichkeiten und Türen für Gastfreundschaft. Doch für Menschen, die ein Trauma erlebt haben, wecken diese Symbole andere Gefühle – Erinnerungen an zerbrochenes Glas, gewaltsames Eindringen und den allgegenwärtigen Schatten der Gefahr. In der sicheren und liebevollen Atmosphäre des Kurses werden diese Geschichten gehört und neue Erinnerungen geweckt. Die Kurse bieten mehr als nur künstlerischen Ausdruck, sie sind ein Zufluchtsort, ein Ort der Zugehörigkeit. Für die Flüchtlingsfrauen, die dort zusammenkommen, ist diese Gemeinschaft, die sich auf Jesus konzentriert, zu einem Rettungsanker geworden.
Aber das ist nur eine Facette der Arbeit von OM in Polen. Als Antwort auf die grösste humanitäre Krise in der modernen Geschichte Europas – eine Krise, die 10 Millionen Menschen vertrieben und fast 15 000 zivile Todesopfer gefordert hat – war OM unermüdlich präsent. An jenem schicksalhaften Donnerstag im Jahr 2022 spürte ein kleines Team von Mitarbeitern Gottes klaren Ruf: sich zur Verfügung zu stellen, in das Chaos zu gehen und seine Gegenwart in die Dunkelheit zu bringen. Sie begannen mit Tee und belegten Broten an Busbahnhöfen. Bald halfen sie an den Grenzübergängen. Seitdem haben Hunderttausende von Flüchtlingen praktische Hilfe, emotionale Unterstützung und geistliche Ermutigung erfahren.
Heute bietet das OM-Gemeinschaftszentrum in Warschau 28 verschiedene Angebote an, die jede Woche Hunderte von Menschen erreichen. Mit Hilfe von Freiwilligen aus allen Kontinenten hilft OM weiterhin in Flüchtlingsheimen, bietet Unterstützung für traumatisierte Kinder und führt Initiativen für Flüchtlingswaisen, Jugendliche und ältere Menschen durch. Jede Woche erhalten 100 bis 120 bedürftige Familien praktische Hilfe. Die Armut unter den Vertriebenen ist erschreckend, aber die emotionale Belastung – Einsamkeit, Unsicherheit und tiefe seelische Narben – ist noch verheerender. Als Reaktion auf diese wachsende psychische Krise eröffnete OM 2024 ein Beratungszentrum, das kostenlose professionelle Therapie in den Muttersprachen der Flüchtlinge anbietet.
Jede dieser Aktionen hat dazu beigetragen, Leben zu retten, Würde wiederherzustellen und neue Hoffnung zu wecken. „Danke für die Liebe in unserer Trauer“, drückte eine ukrainische Witwe aus. „Und danke, dass du uns die Quelle dieser Liebe nicht vorenthalten hast. Wenn du uns von deinem Jesus nichts erzählt hättest, hätten wir nicht die Kraft, weiterzumachen." Viele Flüchtlinge haben entdeckt, dass die Botschaft des Evangeliums das wertvollste Geschenk ist, das sie erhalten können. So haben neue und lebendige Glaubensgemeinschaften begonnen, Wurzeln zu schlagen.
Wenn wir auf die drei Jahre zurückblicken, die seit der totalen Invasion der Ukraine vergangen sind, sehen wir Städte und Gemeinden in Trümmern liegen. Wir sehen Angst und Unsicherheit in einem Ausmass, das nur schwer zu begreifen ist. Und obwohl wir uns nach Frieden sehnen, geht die Zerstörung weiter. Am Vorabend dieses Jahrestages erlebten ukrainische Städte eine neue Angriffswelle – 267 Drohnenangriffe in einer einzigen Nacht. Mütter haben noch immer Angst um ihre Kinder und treiben sie bei Luftangriffen in die Schutzkeller unter den Schulen. Väter und Söhne marschieren immer noch auf die Schlachtfelder. Der Weihnachtsbaum von 2022 steht noch immer unberührt in Nadias Haus, in einem Haus, in das sie nicht zurückkehren kann.
Wir brauchen viel mehr Menschen wie Nehemia, den biblischen Führer, dessen Herz für sein Volk brach und der sich weigerte, zu ruhen, bis die Wiederherstellung kam. Die Arbeit ist anstrengend und manchmal fühlen wir uns müde, aber wir wissen, dass wir zu dieser Mission der Barmherzigkeit und der Erlösung berufen sind – allein zur Ehre Gottes.
Unter Tränen wurden am vergangenen Sonntag in Kirchen in ganz Polen Gebete gesprochen – Gebete der Klage, aber auch der unerschütterlichen Hoffnung. Sasha, ein ukrainischer Teenager, stand vor seiner Gemeinde in Warschau. Seine Stimme zitterte, als er unter Tränen flüsterte: „Vater, vergib den Schuldigen, vergib uns allen und stelle mein Land wieder her.“
Er war noch ein Kind, als sich seine Welt für immer veränderte.
Bitte beten Sie mit Sasha, unserem OM-Team in Polen und Tausenden unserer ukrainischen Geschwister.